Im Rahmen des Open Course 2011 bin ich auf die Nachwuchsforschergruppe Wissenschaft und Internet gestoßen. Mein persönliches Highlight in Woche 5 ist die Entdeckung der „öffentlichen Wissenschaft“, einer von Dr. Christian Spannnagel vorgestellten Methode zur Weiterentwicklung wissenschaftlicher Thesen im öffentlichen Raum. Ich habe lange darauf gewartet, dass endlich jemand beherzt in die Öffentlichkeit tritt und die für Nicht-Wissenschaftler sehr hohen Einstiegsbarrieren in den wissenschaftlichen Diskurs in Frage stellt. Wissenschaftliche Entwicklung ein Stück weit in der Öffentlichkeit anzusiedeln, das löst eine Menge an sozialpolitischem Brennstoff auf und birgt ungeahnte Möglichkeiten für ein völlig neues Selbstverständnis der Wissenschaften.
In einer Wissensgesellschaft entscheidet nicht mehr Geld oder Status über die Privilegiertheit bestimmter Personengruppen, sondern der Zugang zu aktuellem interdisziplinärem Wissen sowie die Fähigkeit, dieses zweckmäßig und sinnvoll anzuwenden.
Dr. Christian Spannagel sieht den neuen Wissenschaftler als „Organisator kollektiver Wissenskonstruktion“.
Doch wie kann ein solcher öffentlicher wissenschaftlicher Diskurs vonstatten gehen, ohne dass Spekulationen und marktschreierischen Thesen Tür und Tor geöffnet werden? Wie kann eine öffentliche Wissenschaft bestehen, ohne dass sie dem Diktat des „Bauchgefühls“ unterliegt und damit schon von vorneherein nicht ernst genommen wird und so zum Scheitern verurteilt ist? Solchen, oder ähnlichen Vorurteilen wird sich eine öffentliche Wissenschaft sicher stellen müssen.
Prof. Dr. Timm Grams von der Hochschule Fulda hat eine sehr interessante Sammlung von statistischen Irrtümern zusammengetragen. Einen häufigen Grund für wissenschaftliche Irrtümer sieht er darin, dass bestimmte Parameter, die einen wesentlichen Einfluss auf einen zu prüfenden Sachverhalt haben aus einem „Bauchgefühl“ heraus falsch angegeben werden. Das kann aus seiner Sicht zu falschen Schlussfolgerungen mit fatalen Folgen führen.
In seinem Blogbeitrag vom 3. Juni 2011 mit dem Titel „Bauchgefühle: Je dümmer, desto klüger? Zwei Empfehlungen und eine Warnung“ schreibt er: „Wenn wir etwas über die Anwendbarkeit der Heuristik wissen wollen, brauchen wir eine umfassende Kenntnis der Problemlage,…“
Genau darin sehe ich den Mehrwert einer öffentlichen Wissenschaft. Denn wenn ein Thema mit vielen Menschen erörtert wird, ist das eine Chance möglichst viele Einflussfaktoren auf einen Sachverhalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu erkennen. Dieser Erkenntnisprozess verhilft dann solche Vorannahmen zu treffen, die es ermöglichen statistisch sinnvolle Schlüsse zu ziehen.
In einem Punkt muss ich Herrn Dr. Grams allerdings widersprechen. Seine strikte Warnung, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Er zieht den Rückschluss, dass der von ihm vorgetragene statistische Irrtum auf dem was er als „Bauchgefühl“ bezeichnet beruhen würde. Hat er diese These statistisch überprüft? Ich würde diesen Rückschluss so nicht ziehen, sondern die Ausgangslage eher so interpretieren, dass es sich bei der fehlerhaften Statistik um einen logischen Denkfehler, bzw. um fehlerhafte Vorannahmen gehandelt hat. Wie kommt Dr. Grams zu der Annahme, dass unzureichendes logisches Denken unweigerlich etwas mit „Bauchgefühl“ zu tun haben muss?
Ich persönlich sehe das „Bauchgefühl“ jenseits von logischem oder unlogischem Denken. Das menschliche „Bauchgefühl“ stellt für mich eine intuitive Bewertungshilfe von Sachverhalten dar. Es bündelt alle zur Verfügung stehenden Informationen und ermöglicht dadurch schnelle Entscheidungen. Je länger man sich im Vorfeld mit einem Thema auseinandergesetzt hat, desto mehr differenzierte Information wird in sekundenschnelle in das Bauchgefühl mit einfließen. Ein logisch geschulter Mensch wird aus seinem „Bauchgefühl“ heraus anders urteilen als ein nicht geschulter. Und so muss nicht unweigerlich das Bauchgefühl Ursache von falschen Schlussfolgerungen sein sondern schlicht die Tatsache, dass jemand nicht gut recherchiert und sich nicht ausreichend Gedanken gemacht hat. Angesichts der hohen Zahl der im Laufe der Wissenschaftsgeschichte korrigierten statistischen Irrtümer, muss festgestellt werden, dass es auch im ganz normalen Wissenschaftsbetrieb immer wieder passiert, dass Wissenschaftler gewisse Dinge nicht bedacht und daher falsche Rückschlüsse gezogen haben. Der Fehler ist ein wichtiger Schritt zum lernen.
Wenn das tatsächlich so wäre, so würde das bedeuten, dass das so oft zitierte und gleichzeitig so vehement verurteilte „Bauchgefühl“ einer „unreflektieren breiten Masse“, das in eine öffentliche Wissenschaft als Störfaktor mit einfließen könnte einfach nur ein kleines unbedeutendes Puzzlestückchen auf dem Weg zu kollektiver Wissenskonstruktion wäre. Und angestoßen durch eine öffentliche Wissenschaft, könnte ein gesellschaftlicher Prozess in Gang gestetzt werden, der dazu führt dass immer mehr Menschen sich immer mehr Gedanken zu wissenschaftlichen Themen machen.
Quellen:
Prof. Dr. Timm Grams. (03.06.2011). Bauchgefühle: Je dümmer, desto klüger? Zwei Empfehlungen und eine Warnung. Online in Internet: URL: http://www2.hs-fulda.de/~grams/hoppla/wordpress/?p=314 (Stand 03.06.2011).
Prof. Dr. Christian Spannagel (30.5.2011) Aspekte öffentlicher Wissenschaft. Online in Internet: URL: http://de.wikiversity.org/wiki/Benutzer:Cspannagel/duesseldorf2011 (Stand 03.06.2011).
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